DIE PFLEGEBRANCHE IM STRESSTEST

Ein Interview mit Managing Partner Ricardo Neumann – CARE INVEST – Juni 2023

INFLATION, UKRAINE-KRIEG, FACHKRÄFTEMANGEL – VIELE BRANCHEN IN DEUTSCHLAND HABEN DERZEIT ZU LEIDEN. WAS SIND AUS IHRER SICHT DIE GRÜNDE, DASS AUSGERECHNET DIE PFLEGEBRANCHE SO STARK UNTER DRUCK STEHT?

Ökonomisch gesprochen liegt das Hauptproblem der Pflegebranche in ihrer schwachen Preissetzungsmacht: Während viele andere Branchen erhöhte Einkaufspreise direkt an ihre Kunden weitergeben können, sind in der Pflege langwierige Verhandlungen mit den Kostenträgern über Pflegesatzvereinbarungen, Investitionsfolgekosten, etc. notwendig. Das heißt die Bezugspreise für Energie, Lebensmittel, Pflegehilfsmittel und insbesondere die Lohnkosten – man denke nur an das Tariftreuegesetz – steigen sofort, die Refinanzierung erfolgt, wenn überhaupt, nachgelagert. Das dadurch entstehende Finanzierungs-Gap stellt eine große Belastung für die Liquidität der Pflegebetreiber und damit einen wesentlichen Treiber der aktuellen Insolvenzwelle dar.

Dazu gibt es eine Reihe weiterer Faktoren, die die Pflegebranche über Gebühr belasten: So ist beispielsweise das Einsparpotential bei den Energiekosten beschränkt, weil die Raumtemperaturen in der stationären Pflege gesetzlich vorgegeben sind. Zudem sorgen die starren Personalvorgaben, etwa in Form der berüchtigten Fachkraftquote dafür, dass aufgrund der chronisch angespannten Personalsituation vielfach Belegungsstopps verhängt und Bettenkapazitäten zurückgefahren werden, selbst wenn dies aus betrieblicher Sicht nicht unbedingt notwendig wäre. Da die Pflegesätze bekanntermaßen auf Grundlage von Auslastungsquoten von deutlich über 90 % berechnet werden, ist jedes stillgelegte Pflegebett ein weiterer Schritt in die roten Zahlen.

Zusammengefasst kann man sagen, dass die Pflegebranche derzeit einem wahren Stresstest ausgesetzt ist, der zum einen durch die allgemeine Marktbedingungen und zum anderen durch regulatorische Hindernisse begründet wird.

HABEN SIE DAS GEFÜHL, DASS SEITENS DER POLITIK DIE ZEICHEN DER ZEIT ERKANNT WURDEN?

Ja und nein. Über die aktuelle Pflegereform wurde ja schon viel geschrieben. Ohne zu sehr ins Detail gehen zu wollen, ist klar, dass es sich hier nur um ein finanzielles Trostpflaster handelt, mit dem die kurzfristig anfallenden Kostensteigerungen gedeckt werden können. Wie eine langfristige Sicherung des Pflegesystems gerade vor dem Hintergrund des demografischen Wandels aussehen soll, ist leider
nicht zu erkennen. Ich hätte mir zudem ein Statement gewünscht, wie die dringend notwendigen Investitionen zur energetischen Sanierung von Bestandseinrichtungen gestemmt werden sollen.

Es ist jedoch klar, dass nicht alle Probleme
mit mehr Geld gelöst werden können!

Die Achillesferse der Pflegebranche ist der Personalmangel. Hier bietet die Weiterentwicklung des Fachkräftegesetzes einige gute Ansätze, zum Beispiel wie die Anwerbung von Fachkräften und Auszubildenden aus Nicht-EU-Ländern vereinfacht werden kann. Es bleibt abzuwarten, wie sich das Gesetz in der Praxis bewähren wird, aber fest seht, dass wir es ohne Hilfe von außen nicht schaffen werden. Und auf zusätzliche Pflegekräfte aus Osteuropa sollten wir uns nicht verlassen, denn dort sind die demografischen Aussichten sogar noch schlechter als bei uns.

Zudem bin ich gespannt auf die Umsetzung der neuen Vorgaben zur Personalbemessung. Die ab 1993 geltende Fachkraftquote wird ja jetzt endlich abgeschafft und durch einen flexiblen Personalschlüssel aus Fach-, Assistenz- und Hilfskräften ersetzt. Dies sollte starke Anreize schaffen, ungelernte Hilfskräfte zügig zu qualifizieren, um die stark unter Druck stehenden Pflegefachkräfte zu entlasten. Auch hier wird man abwarten müssen, wie das Modell in der Praxis gelebt wird. Aus unserer Sicht ist es jedoch zu begrüßen, dass seitens der Politik einige Steine aus dem Weg geräumt werden, um einen effizienteren Einsatz der personellen Ressourcen zu ermöglichen.

WIR WOLLEN DEN BLICK NACH VORNE RICHTEN: WAS MUSS PASSIEREN, UM DIE PFLEGEBRANCHE ZUKUNFTSFEST ZU MACHEN?

Die langfristige finanzielle, personelle und strukturelle Sicherung des Pflegesystems ist in unserer alternden Gesellschaft eine der wichtigsten Aufgaben überhaupt. Dass wir noch deutlich mehr Geld in die Hand nehmen müssen, ist allen bekannt. Aber auch strukturell können wir uns keinerlei Denkverbote mehr leisten. Das trifft insbesondere auf die Sektorengrenzen zwischen stationärer und ambulanter Pflege zu. Langfristig führt kein Weg dran vorbei, integrierte Pflegeeinrichtungen mit bedürfnisgerechter Versorgung aus einer Hand zu ermöglichen, bei der ambulante und stationäre Betreuung inklusive Tagespflege unter einem Dach angeboten werden. Ein einheitlicher Regulierungsrahmen wäre gleichermaßen im Interesse der Pflegebedürftigen wie auch der Betreiber und deren Beschäftigten und könnte die Personal- sowie Kosteneffizienz in der Pflege verbessern.

Aufgrund bürokratischer und regulatorischer Hürden
liegen noch viele weitere Sparpotentiale brach.

Ein Beispiel: Photovoltaik und Energieeffizienz. Es stehen bei Pflegeimmobilien so viele Dachflächen zur Verfügung, die förmlich danach schreien, mit PV-Anlagen belegt zu werden und damit die Betriebskosten zu minimieren und die Objekte nachhaltiger und klimagerechter zu betreiben. Das Problem: Durch die Einspeisung des regenerativ erzeugten Stroms werden gewerbliche Einkünfte generiert, wodurch die Einrichtungen als Ganzes in die Gewerblichkeit rutschen können, was große steuerliche Nachteile mit sich bringt. Hier wäre es seitens der Politik dringend geboten, die steuerrechtliche Betrachtung noch einmal zu überdenken.

Aber man macht es sich zu einfach, immer nur mit dem Finger auf die Politik zu zeigen. Veränderungen müssen auch innerhalb der Branche angestoßen werden. Wir erleben häufig, dass die Eigentümer viel zu weit weg vom operativen Betrieb sind und sich überspitzt formuliert nur für den Zahlungseingang der Pachtrate interessieren. Hier fehlt es oft am grundlegenden Verständnis und Augenmaß im Umgang mit den Belangen der Betreiber. Diesen wiederum mangelt es mitunter an der Bereitschaft, sich gegenüber den Eigentümern zu öffnen und Rechenschaft über betriebliche Belange abzulegen. Auch im Interesse der Beschäftigten und Bewohner vor Ort würden wir gerne beide Seiten dazu ermutigen, ihre Beziehung transparenter zu gestalten und im Sinne einer Partnerschaft weiterzuentwickeln.

IM ZUGE DER ZINSWENDE LIEGEN VIELE NEUBAUVORHABEN AUF EIS. WIE KÖNNEN DIE BAUAKTIVITÄTEN WIEDER ANGEKURBELT WERDEN?

Das ist tatsächlich ein großes Problem, denn wir brauchen dringend mehr moderne, attraktive Pflegeeinrichtungen, zumal die Bettenkapazität durch den politisch gewollten Rückbau von Doppelzimmern seit längerem stagniert.

Zudem hat die überraschende Vollbremsung bei den KFW-Förderprogrammen für viel Verunsicherung in der Branche gesorgt und zahlreichen Neubauprojekten im Planungs- bzw. Entwicklungsstadium den Stecker gezogen. Um mehr private und institutionelle Investoren für den Bau von Sozialimmobilien zu gewinnen, sollte man über ein gesondertes Investitionsprogramm analog zu den etablierten Wohnraumförderprogrammen nachdenken. Auch sollte es in einer sozialen Marktwirtschaft möglich sein, dass kommunale Flächen im Rahmen von Erbbaurechtsverträgen für den Bau von Pflegeeinrichtungen, Kitas, etc. zur Verfügung gestellt werden, anstatt diese immer höchstbietend an Investoren zu veräußern. Dies wäre vor allem in Metropol- und Speckgürtelregionen, wo sich Neubauvorhaben aufgrund der extrem hohen Grundstückspreise kaum noch realisieren lassen, der einfachste Weg, neue Pflegekapazitäten zu schaffen.

Und auch wenn es wohl ein frommer Wunsch bleiben wird, wäre es das beste Konjunkturprogramm für unsere Branche, wenn sich Betreiber, Immobilieneigentümer, aber auch Architekten, Planer und Ingenieure nicht mehr mit 16 verschiedenen Landesheimgesetzen, Landesbauordnungen und sonstigen aufsichtsrechlichen Vorgaben herumschlagen müssten.

KOMMEN WIR ZURÜCK ZUM HIER UND HEUTE: WIE BETRIFFT SIE DIE AKTUELLE KRISE AUF DEM PFLEGEMARKT IN IHRER TÄGLICHEN ARBEIT?

Uns erreichen fast täglich Anfragen von Eigentümern diverser Pflegeeinrichtungen oder Service-Wohnanlagen, denen der Betreiber abhandengekommen ist. Nach eingehender Analyse von Standort, Immobilie und den wirtschaftlichen Rahmenbedingungen prüfen wir, ob ein anderer Betreiber vom Konzept her passen könnte. Insbesondere an dezentral gelegenen Standorten, die für viele große, etablierte Betreiber nicht von Interesse sind, ist einiges an Kreativität, Branchenkenntnis und manchmal auch Hartnäckigkeit notwendig, um einen neuen Betreiber ins Boot zu holen. Mit ein paar Telefonaten und dem Austausch von Exposés und Objektkennzahlen ist es dabei natürlich nicht getan. Wie so oft steckt der Teufel im Detail wenn ein Betreiberwechsel gelingen soll. Gerade der Umgang mit behördlichen Auflagen, die Bewertung von etwaigen Baumängeln oder dem Wartungszustand der TGA, die Frage nach dem Übergang betriebsnotwendiger Verträge und viele weitere Problemstellungen haben das Potential, mögliche Interessenten zu verschrecken. Hier ist es geboten, verlässliche und belastbare Erfahrungswerte aufzuzeigen und über ein hohes Maß an Transparenz während der Vertragsverhandlungen für Vertrauen zwischen den einzelnen Vertragsparteien zu sorgen.

Auch viele Projektentwickler und Grundstückseigentümer kommen auf uns zu, weil sie entweder direkt von der Insolvenz eines Betreibers betroffen sind oder weil sich ihr Bauvorhaben unter den aktuellen Rahmenbedingungen nicht mehr rechnet.

Hier überlegen wir je nach Planungsstand, ob es mit einer Anpassung der Flächenplanung möglich ist, ein alternatives Betreiberkonzept zu implementieren oder gegebenenfalls ein völlig neues Nutzungskonzept in Frage kommt, beispielsweise im Bereich des geförderten Wohnens.

Auch hier ist guter Rat teuer, auch wenn er für meinen Geschmack noch ein bisschen teurer sein könnte (lacht).

MIT WELCHEN KONKRETEN HERAUSFORDERUNGEN SEHEN SIE SICH KONFRONTIERT, WENN EINE BESTANDSEINRICHTUNG IN DIE INSOLVENZ RUTSCHT?

Wir hatten bereits einige Fälle, in denen wir von Eigentümern kontaktiert wurden, deren Einrichtungen kurz davor waren, im laufenden Betrieb geschlossen zu werden. Dies muss aber mit aller Macht verhindert werden! Denn abgesehen davon, dass es eine menschliche Tragödie ist, wenn Pflegebedürftige Menschen ihr Zuhause verlieren, also ihre gewohnte Umgebung mitsamt den Bezugspersonen, denen sie vertrauen, ist jede Schließung auch aus betriebswirtschaftlicher Sicht eine mittlere Katastrophe. Denn eine erneute Inbetriebnahme unter neuer Flagge ist in Punkto Imagekorrektur und Personalgewinnung eine gewaltige Herausforderung. Damit es gar nicht erst so weit kommt, sind zwei Dinge unabdingbar: Schnelles Handeln und direkte Kommunikation: Da die Insolvenzverwalter oftmals nicht lange fackeln und bei Bedarf ohne große Vorwarnung Kündigungen an die gesamte Belegschaft verschicken, muss schnellstmöglich der Gesprächsfaden zum Insolvenzverwalter aufgenommen und mögliche Perspektiven für den Betrieb aufgezeigt werden. Genauso wichtig ist es, proaktiv auf die Heim- und Pflegedienstleitung vor Ort zuzugehen und zu verhindern, dass möglicherweise unbegründete Gerüchte über eine immanente Schließung die Runde machen. Wenn es gelingt, das Personal am Standort zu halten, verbessern sich die Zukunftsaussichten der Objekte meistens deutlich.

ZUM ABSCHLUSS EIN BLICK IN DIE KRISTALLKUGEL: WIE LAUTET IHRE ZUKUNFTSPROGNOSE FÜR DIE PFLEGEBRANCHE?

Die Herausforderungen, vor der wir als Branche stehen, sind gewaltig, das kann man leider nicht anders ausdrücken. Trotzdem bin ich vorsichtig optimistisch, weil ich glaube, dass die grundlegenden Probleme seitens der Politik trotz aller Defizite erkannt wurden. Es ist einfach eine gesellschaftliche Gesamtaufgabe, dafür zu sorgen, dass eine menschenwürdige Unterbringung im Alter bezahlbar bleibt, dass sich die Arbeitsbedingungen in der Pflege weiter verbessern und dass dafür Sorge getragen wird, dass stationäre und ambulante Betreuungsformen für alle Pflegebedürftigen in ausreichender Zahl zur Verfügung stehen. Am Geld darf es nicht scheitern und wenn wir als Land über unseren Schatten springen und den Mut zu tiefgreifenden Reformen aufbringen, können wir unsere Ziele erreichen.

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